ZitatEin körperweites Netz Unser Verständnis davon, wie Faszien die Gesundheit beeinflussen, hängt davon ab, wie man Anfang und Ende der Faszien im Körper definiert.
Manche Menschen sind der Ansicht, dass der Begriff nicht nur die verschiedenen Schichten des Bindegewebes unter der Haut und um die Muskeln umfasst, sondern auch das Interstitium. Das ist jenes flüssigkeitsgefüllte Bindegewebe, welches jedes Organ, jede Muskelfaser und jedes Blutgefäß auskleidet.
Wenn das stimmt, bilden die Faszien ein flüssigkeitsgefülltes Netzwerk, das den gesamten Körper durchzieht und sowohl als Stoßdämpfer als auch als eigenes Immunsystem fungieren könnte, das für entzündliche Erkrankungen, Narbenbildung und die Ausbreitung von Krebs eine Rolle spielt.
Die wahre Natur des Interstitiums wurde erst 2018 entdeckt. In einer Studie wandten Neil Theise von der Icahn School of Medicine in Mount Sinai, New York, und seine Kollegen eine neue mikroskopische Technik an, um die Struktur des Interstitiums am lebenden Menschen zu untersuchen. In der Vergangenheit konnte man das Gewebe nur betrachten, indem man es entnahm und auf einem Objektträger zerdrückte. Bei der Betrachtung des lebenden Gewebes zeigte sich: Was bisher wie ein dichtes Gewirr von Fasern aussah, weist in Wirklichkeit eine schwammartige Struktur auf. Sie ist mit Flüssigkeit gefüllt, die ins Lymphsystem mündet und gehört damit zum Immunsystem des Körpers.
Das Team vermutet, dass körperliche Bewegung dazu beitragen kann, dieses Flüssigkeitssystem gesund zu halten: durch die höhere Pumpleistung des Herzens, die Mobilisation des Verdauungstrakts und die Bewegung des Körpers. »Offenbar sind solche Räume nicht statisch«, sagt Theise. Diese Entdeckung legt nahe, dass der Körper auf eine Art und Weise vernetzt ist, die wir gerade erst zu verstehen beginnen.
Bindegewebe: Faszien – das übersehene Gewebe Das Bindegewebe, das Muskeln und Organe umgibt, haben Mediziner lange Zeit ignoriert. Dabei könnten die Faszien der Schlüssel zur Behandlung chronischer Schmerzen sein.
ZitatWissenschaftliche Erkenntnisse können in den seltsamsten Momenten entstehen – etwa, wenn eine Ratte im Labor den »herabschauenden Hund« macht. Bei dieser Yogaübung zeigt sich: Die Nagetiere profitieren von den damit verbundenen Dehnungen ebenso wie wir Menschen. Forschende enthüllen immer mehr über die Bedeutung eines Gewebes, welches die Wissenschaft jahrhundertelang übersehen hat.
ZitatOrgan oder nicht, es gibt Hinweise darauf, dass die tiefe Faszie eine andere Art von Botschaften sendet als andere Körpergewebe. Experimente, bei denen sich gesunde Testpersonen freiwillig schmerzhafte Spritzen in Haut, Muskeln oder Faszien verabreichen ließen, haben gezeigt, dass die Nerven in Haut und Muskeln mit konzentrierten, örtlich begrenzten Schmerzsignalen reagieren. Das Nervengeflecht in den Faszien hingegen rief einen großräumigeren, schwer zu lokalisierenden Schmerz hervor. Solche diffusen Schmerzen sind ein Merkmal verschiedener chronischer Schmerzerkrankungen, zum Beispiel Fibromyalgie.
Manche Studien haben die Erkrankung mit einer Entzündung der Faszien in Verbindung gebracht. Auch Muskelkater wurde lange Zeit auf eine Schädigung der Muskeln zurückgeführt. Inzwischen nehmen einige Forschende aber an, dass dies eher mit Verletzungen oder Entzündungen in den Faszien zu tun hat. Die schlechte Nachricht für Menschen mit entzündeten Faszien: Wenn dieser Zustand lange anhält, verändert sich die Zusammensetzung der dort ansässigen Nerven, sie werden empfindlicher für Schmerzen. Bei Ratten stieg der Anteil der nozizeptiven Fasern – das sind jene, die mit Schmerzrezeptoren ausgestattet sind – nach einer chronischen Entzündung der tiefen Faszien im unteren Rückenbereich von vier auf 15 Prozent an. Das könnte erklären, warum Schmerzen im unteren Rücken so schwer zu behandeln sind. Sie stellen eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsausfälle und allgemeine Bewegungseinschränkungen dar.
ZitatIn jüngster Zeit allerdings beginnt sich der Blick auf die Faszien zu verändern. Forscherinnen und Forscher haben festgestellt, dass sie alles andere als eine passive Isolationsschicht sind. Sie sind vielmehr ein Ort biologischer Aktivität, der einige der Zusammenhänge zwischen Lebensstil und Gesundheit erklären könnte. Möglicherweise handelt es sich sogar um eine Art Sinnesorgan. »In den Faszien geht offenbar viel mehr vor, als man so denkt«, sagt Karl Lewis von der Cornell University in Ithaca, New York.
Fachleute haben mittlerweile erkannt, dass es dringend eines besseren Verständnisses für dieses allgegenwärtige Gewebe bedarf. Es könnte neue Wege eröffnen, um weit verbreitete, aber schwer zu behandelnde Krankheiten zu bekämpfen – von Erkrankungen des Immunsystems bis hin zu chronischen Schmerzen.
ZitatDiese Steifheit schien darauf zurückzuführen zu sein, dass mehrere Gewebeschichten miteinander verklebt waren. Das hinderte sie offenbar daran, aneinander vorbeizugleiten. Langevins Studien an Schweinen bestätigten jene These. Sie zeigten außerdem, dass ein Mangel an Bewegung im unteren Rücken die Faszien steif machen und Verwachsungen an Stellen verursachen, wo sich zwei Schichten durch neue Kollagenfasern miteinander verbanden – selbst, wenn eine anfängliche Verletzung bereits verheilt war. Anderen Studien zufolge schränkt dies die Bewegung ein. Und zwar nicht nur in der Faszie, die die steife Stelle umgibt, sondern auch in benachbarten Regionen. In besonders schweren Fällen können die Faszienschichten zu einem unbeweglichen Block verkleben, der sich von der oberflächlichen über die tiefe Faszie bis in den Muskel hinein erstreckt.
Neben Verletzungen und Entzündungen gibt es zahlreiche andere Gründe, warum Faszien steif werden. Schleips Studien deuten darauf hin, dass die Aktivierung des sympathischen Nervensystems, das an der Kampf-oder-Flucht-Reaktion des Körpers beteiligt ist, die Faszien dazu bringt, sich zusammenzuziehen. Es veranlasst die Fibroblasten, sich in Myofibroblasten umzuwandeln. Diese Zellen spielen bei der Entzündungsreaktion infolge von Verletzungen eine wichtige Rolle – und sie kommen auch bei Gelenkproblemen wie einer steifen Schulter vor.
Wie Stress zu einer solchen Versteifung führt, ist noch nicht genau erforscht. Schleip zufolge erhöht Adrenalin die Expression einer entzündlichen Substanz namens TGF-Beta. Diese wird in den losen Faszien gespeichert, um den Körper auf den nächsten Stress vorzubereiten. Wenn das geschieht, »trinken die Fibroblasten [TGF-Beta] und werden binnen weniger Stunden zu Myofibroblasten«, sagt Schleip. Das mache sie viermal so stark. »Sie sind Kontraktionsmaschinen.«
Dabei ist Adrenalin offenbar keineswegs der einzige Faktor, der sich auf die Dehnbarkeit der Faszien auswirkt. »Östrogen macht sie elastischer«, sagt Stecco. »Faszien sind ein sehr dynamisches Gewebe, das auf hormonelle, chemische und mechanische Einflüsse reagieren kann. Alles zusammen bestimmt, ob sie elastisch oder steif sind.«
Das Gute an der dynamischen Natur der Faszien: Wenn wir unseren Lebensstil verändern, können wir einige Probleme womöglich beheben. Eine viel versprechende Maßnahme, die derzeit untersucht wird, ist das Dehnen. In Gewebeproben von Ratten beobachtete Langevin, dass Dehnen die Fibroblasten verändert, die das Gerüst der areolären Fibroblasten bilden. Sie werden um ein Vielfaches größer, länger und flacher. »Die Dehnung des Gewebes ermöglicht es ihm, sich zu entspannen«, fügt sie hinzu.
Dehnen könnte helfen Den unteren Rücken zweimal täglich für fünf Minuten zu dehnen, so zeigen Langevins Studien mit Schweinen, kann nicht nur die Größe des entzündeten Bereiches verringern, sondern scheinbar auch dafür sorgen, dass in den Faszien entzündungshemmende Substanzen ausgeschüttet werden. Das ist ein viel versprechendes Ergebnis, denn chronische Entzündungen stehen mit so gut wie allen Leiden in Zusammenhang – von Herzerkrankungen bis hin zu Krebs und Depressionen.
Ein Team der Harvard Medical School führt derzeit eine Studie mit Menschen durch, um herauszufinden, ob sich die Ergebnisse übertragen lassen. Eine Ende 2021 abgeschlossene Pilotstudie zeigt, dass gesunde Freiwillige, die eine einstündige Dehnungseinheit absolvierten, andere Pegel an bestimmten Immunmolekülen, so genannten Zytokinen, aufwiesen als die Kontrollgruppe, die sich nicht dehnte. Das deutet darauf hin, dass das Dehnen die Entzündung beeinflusst.
Künftige Studien sollen klären, ob auch der Gehalt an Resolvinen ansteigt. Das sind Stoffe, die der Körper herstellt, um Entzündungen einzudämmen. Bei Ratten und Schweinen war dies der Fall. Ist es bei Menschen ähnlich, könnte Dehnen vielleicht helfen, weit verbreitete chronische Entzündungen zu reduzieren, die durch Langzeitstress, Fettleibigkeit und schlechte Ernährung ausgelöst werden.
Bislang ist unklar, ob physikalische Therapien wie Massagen, die sich auf das Lockern der Faszien konzentrieren, die gleichen zellulären und entzündungshemmenden Wirkungen haben wie das Dehnen. Vielleicht bewirken sie auch nur kurzfristige Veränderungen. Es könnte zum Beispiel sein, dass manuelle Therapien das Gewebe erwärmen. Dadurch wird die Faszienmatrix nachweislich weniger zähflüssig und die Schichten können vorübergehend leichter gleiten. Langevin mahnt jedoch zur Vorsicht: Solange man nicht genau wisse, was bei diesen Therapien passiert, sei nicht klar, was sie mit den Faszien machen beziehungsweise: ob sie überhaupt etwas bewirken.